Besuch bei Herrn Dr. Ernst Albrecht, ehemaliger Ministerpräsident
von Niedersachsen.
Burgdorf-Beinhorn
bei Hannover am Freitag, 06.04.2013
Von
Thanh Nguyen-Brem
Vorgeschichte:
Dr.
Ernst Albrecht war zwischen 1976 und 1990 Ministerpräsident von Niedersachsen.
Genau in dieser Amtszeit ereilte das Schicksal der „Boat People“ aus Vietnam
die Medien.
Die Menschen in den westlichen Ländern zehrten noch von dem alten
Bild des „befreiten Vietnam“ und waren sprachlos und fassungslos, als die
erschütternden Bilder der im Meer herumirrenden Flüchtlinge aus Vietnam in den
überfüllten Schiffen „Hai Hong“, „Tung An“ und Huey Fong, mehr als 10.000 in
der Zahl, überall verbreitet wurden - ausgestoßen,
gejagt, vertrieben von ihren Nachbarländern.
Niemand wollte diese
ungeheuerliche Last tragen. Menschliche Schicksale wurden zu Zahlen in der Statistik degradiert.
Auch
der Westen, die zivilisierten Staaten in Europa, zeigte sich zwar berührt,
erschüttert, entsetzt von dieser ungeheuerlichen menschlichen Tragödie. Aber
auch hier lief das alte Schema ab: man appellierte an die UNO und an die
Staaten Asiens, den „Verdammten der Meere“ (frei nach Heinz Konsalik)
größtmögliche Hilfe zu leisten, sprich: die Boat People in Asien ans Land gehen
zu lassen und sie zu versorgen. Auf die Idee, die Flüchtlinge selbst aufzunehmen,
kam niemand, niemand von den reichen Industrienationen.
Wirklich
niemand? Nein. Es passierte etwas, was an „Asterix“ erinnerte: Ganz Gallien war
von den Römern besetzt aber es gab ein kleines Dorf, dessen Bevölkerung
aufbegehrte. Ja, das gleiche Bild wiederholte sich. Ganz Europa war in
pathetischen Appellen versunken. Aber es gab einen Mann, der gegen die
Tatenlosigkeit aufbegehrte: Dr. Ernst Albrecht erklärte, zunächst eintausend
(1000) Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Für die damaligen Verhältnisse war
diese Entscheidung ungewöhnlich mutig. Die Meldung explodierte förmlich in den Medien,
die bis dahin oft nur ellenlange aber unsägliche Beiträge über die „Sieger der
Revolution“ (sprich: die kommunistischen Nordvietnamesen) und „böse Amerikaner bzw.
Südvietnamesen“ anzubieten hatten. Die gewaltige Explosion der mutigen
Entscheidung Albrechts überhörte die „nicht mediengeschädigte“ Bevölkerung
nicht.
Fortan lief eine nie dagewesene Hilfswelle an und überschwemmte mit
hohen Wogen das Land. Heute hätte man den Begriff „Tsunami“ verwendet.
Die
schmerzgeplagten Gesichter der ankommenden Flüchtlinge lassen selbst
hartgesottene Helfer des DRK erschaudern. „Gibt es denn so was?“ war die häufigste
gestellte Frage.
Albrecht
handelte nach seiner Lebensweisheit
"Entweder schreibst du selbst Geschichte
oder die Geschichte überrollt dich, wenn du zögerst.“
Befreiung
von der Befreiung, Befreiung paradox? Ja, wenn
die Befreiten (die Südvietnamesen) vor den Befreiern (den Nordvietnamesen) flohen.
Diese Tragödie entlarvte die Verlogenheit der (linken, selbstherrlichen) Medien.
Diese Journalisten mögen intellektuell gewesen sein. Die Situation konnten sie
keinesfalls erfassen. Sie überforderte ihre Vorstellung.
Mit
dieser Tat setzte Dr. Albrecht nicht nur eine
große Hilfswelle frei sondern gleichzeitig die restlichen Bundesländer und das
westliche Ausland unter „humanitären“ Druck. Der Stein rollte. NRW und
Baden-Württemberg folgten in unmittelbarer Zeitfolge dann die Niederlande,
Norwegen und Dänemark sowie die USA, Kanada, Frankreich und Australien.
Im Frühjahr 1979 gab es kein Halten mehr. Es gehörte
plötzlich zum guten Ton der Politik, „Boat People“ aufzunehmen, ausgenommen
Schweden, dessen liberale Regierung von Ola Ullsten weigerte sich hartnäckig Flüchtlinge
aufzunehmen und suchte das Heil in faulen Ausreden (die Vietnamesen würden in
Schweden nur erfrieren. Die Bevölkerung hätte keine Sympathie für Südvietnamesen
…). Ullsten übernahm die Sprachregelung von Olof Palme, bis die UNO am 20. und
21.07.1979 eine Flüchtlingskonferenz in Genf einberief, um Hilfsmaßnahmen zu koordinieren.
Erst sein Nachfolger Thorbjörn Fälldin beugte sich dem moralischen Druck des UNHCR
(UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge) und nahm Anfang 1980 die ersten Flüchtlinge
auf, als letztes Land der „zivilisierten Welt“.
Bereits
im Frühjahr 1979 formierten sich in Frankreich und in Deutschland private
Initiativen zur Rettung von „Boat People“. In Frankreich entstand die
Hilfsorganisation „un bateau pour Vietnam“, initiiert von Jean-Paul Sartre und Raymond
Aron, den streitbaren Kämpfern der Resistance (der Widerstandbewegung gegen die
deutsche Besatzung Frankreichs) und erbitterten politischen Gegnern in der Nachkriegszeit. Nach 34 Jahren der Wortlosigkeit
entschieden sie sich gemeinsam für die Hilfe. Die Organisation „un bateau pour
Vietnam“ schickte das Hilfsschiff „Île de lumière“ (Insel des Lichtes) ins
Südchinesische Meer (Ostmeer), um „Boat People“ zu retten.
Zur
gleichen Zeit initiierte der Journalist Dr. Rupert Neudeck eine Aktion in
Deutschland, unterstützt von ansonsten politisch so gegensätzlichen Personen
wie dem Schriftsteller und Nobelpreisträger Heinrich Böll, einem der heftigsten
Gegner der USA in Vietnam und dem Publizisten Matthias Walden, dem politischen
Gegner von Heinrich Böll u.a.m. Ein Schiff sollte unter dem Namen „Port de la
lumière“ (Hafen des Lichtes) auslaufen. Wegen der zusätzlichen Kosten für die
Umbenennung lief es dann unter dem alten Namen „Cap Anamur“ aus.
Zwischen
den von den Poat People so benannten „größten Vietnamesen in Deutschland, Ernst Albrecht und Rupert Neudeck, besteht eine enge Freundschaft. Dr. Neudeck gab den
in Deutschland lebenden Vietnamesen eine „Hausaufgabe“, „den größten
Vietnamesen in Deutschland“ zu besuchen.
Der Besuch:
Da
Herr Dr. Ernst Albrecht an Alzheimer erkrankt ist, muss die Besuchergruppe auf
vier Personen begrenzt werden. Dank des engagierten Managements von Caroline und
Christine Le Trung aus Kornwestheim konnte ein Termin am Fr. 06.04.2013 um 15
Uhr vereinbart werden. Zu der Gruppe gehörte neben mir (dem Autor) als „Wasserträger“ Herr Lam
Dang Chau als Lokalmatador.
Während
Caroline und Christine zu der Generation der „vietnamesischen Schwaben bzw. Deutschen“
gehören, denn sie sind in Deutschland geboren, zählen
wir, Chau und ich zu der „älteren
Generation“. Wir sind in Vietnam geboren, kamen als Studenten Anfang der 70er
Jahre nach Deutschland und haben Deutschland als die neue Heimat angenommen.
Als Verfechter von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten wären wir in Vietnam
unerwünscht und vielleicht sogar schon in Haft.
Wir
kommen in Burgdorf-Beinhorn um 14:50 Uhr an und
warten auf die Haushälterin von Dr. Albrecht, Frau Lehmberg, die uns abholen will,
denn wir sollen nicht läuten. Die Zeit vergeht und es passiert nichts. Das Haus
mit der Nummer 2B finden wir gar nicht. Die Häuser tragen die Nummern 2, 2A, 2C und
2D. Ein Haus hat keine Hausnummer und wir vermuten, dies muss die Nummer 2B
sein. Nichts der gleichen. Um 15:15 Uhr beschließt Chau, bei Haus Nr. 2 A zu
läuten, denn das ist das einzige Haus, in dem die Lichter brennen. Ein junger
Mann im T-Shirt mit dem Aufdruck von Werder Bremen erklärt uns, dass das Haus der
Albrechts an der anderen Seite des Grundstücks liegt, wir sollen um das
Grundstück weiträumig herum gehen.
Schließlich
erreichen wir nach ca. fünf Minuten Fußmarsch das Wohnhaus von Dr. Albrecht und
seiner Tochter, Frau Dr. Ursula von der Leye, der Bundesarbeitsministerin, und
anderer Familienmitglieder. Wir läuten und es passiert zunächst nichts. Niemand
von uns hat die Telefonnummer von Albrecht bei sich. Was tun? Noch während unserer
Versuche, zu Hause anzurufen und die Nummer suchen zu lassen, kommt uns Frau
Lehmberg aus dem Haus entgegen und geleitet uns ins Haus.
Herr Dr. Albrecht empfängt uns im Anzug und Krawatte und heisst uns herzlich willkommen.
Wir werden zu Tisch begleitet, der liebevoll mit Dekos, Kuchen und Keksen
gedeckt ist. Frau Lehmberg hat für uns extra gebacken.
Die
gemütliche Runde mit Kaffee und Kuchen beginnt fröhlich. Ich amüsiere mich köstlich
über seine an mich gestellte Frage: „Gehören dir die beiden Mädchen (Caroline und Christine)?“ Wir erklären ihm (und Frau Lehmberg), wo wir herkommen,
aus Stuttgart, aus Ingolstadt und natürlich aus Hannover und dass ich nicht der
Vater von Caroline und Christine bin.
Herr
Albrecht versteht offenbar die vietnamesische Sitte, „Kinder“ mit Geld zu
beschenken, damit sie Glück haben! Er holt 5€-Scheine und übergibt uns dies mit
herzlichen Grüßen.
Als
(einziges) politisches Statement betont er stolz die historische Bedeutung der Einigung
Europas (ohne zu erwähnen, dass er einer der Architekten Europas ist). Der
Kontinent der vielen blutigen Kriege ist zu einem Kontinent des Friedens
geworden und ist heute so stark, dass niemand sich mehr trauen würde, ihn
anzugreifen.
Er
hört gerne Musik und fragt uns höflich, ob er eine CD starten dürfe. Sein
Bruder Georg ist Intendant in Weimar und dirigierte das Konzert, das er uns auf
der CD vorführt. Danach möchte er wissen, ob jemand von uns Klavier spielen
kann. Caroline führt ihre Musik vor, was uns, einschließlich Dr. Albrecht, sehr
gut gefällt.
Danach
lädt er uns ein, seine Tiere im Garten zu füttern, die drei Hühner im Stall, die
Ziegen auf der großen Wiese. Wir sehen auch zwei Pferde in der Weite und können
seinen selbstangelegten Teich bewundern. Ein Mensch in der Natur, die er liebt.
Um
ca. 17:30 Uhr kommt Herr Lehmberg, der Mann von Frau Lehmberg, der mit ihr und
seiner Schwägerin den Haushalt verwaltet. Herr Lehmberg erzählt stolz, dass er
mehr als 30 Jahre Ermittler des Landeskriminalamtes war. Als pensionierter
Beamter hilft er gerne im Haushalt Albrechts mit.
Kurz
danach trifft Herr George Alexander Albrecht ein. Der Bruder von Ernst Albrecht
ist Intendant in Weimar. Als ich den Namen eines Bekannten erwähne, der
Intendant in Bremen ist, zeigt Georg Albrecht mit seinem Mittelfinger auf meine Brust und sagt: „Dann schreiben Sie ihm einen Brief und grüßen Sie ihn von mir!
Wir haben schon in Berlin zusammen dirigiert.“ Na ja, er ist Intendant und die
Welt ist doch klein denn Herr Georg Albrecht wurde in Bremen geboren!
Zum
Abschied signiert er uns allen Vier sein Buch „Erinnerungen, Erkenntnisse,
Entscheidungen“, in dem er u. a. die Einigung der EWG (Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft, Vorläuferin der EU) beschreibt. Auf Seiten 56-58 erläuterte er seine Entscheidung, vietnamesische "Boat People" aufzunehmen.
Wir
werden danach herzlich verabschiedet und
fahren mit dem guten Gefühl nach Haus, einen großartigen Menschen besucht zu
haben. Von seiner Krankheit (Alzheimer) ist keine Spur zu sehen. Herr Dr.
Neudeck hatte uns schon gesagt, dass „Albrecht aufblühe, wenn er nur
Vietnamesen zu Besuch höre“, was wahrlich zutrifft. Herr Albrecht, hat uns
sogar angeboten, bei ihm zu übernachten, um Hotelkosten zu sparen, was wir als sehr
rührend empfanden. In seinem Haus hatten schon andere Vietnamesen übernachtet.
Dr.
Albrecht (Jahrgang 1930), der größte Vietnamese in Deutschland. Wir wünschen
ihm von Herzen, Gott möge ihm die Gesundheit und die Güte lange erhalten.
Wer
weiß, was aus den im Meer herumirrenden Vietnamesen geworden wäre, ohne den Mut
und die Taten von Dr. Ernst Albrecht und Dr. Rupert Neudeck.
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